Von starken Frauen und liebenden Müttern

Bern, 08.06.2006 - Ansprache von Bundeskanzlerin Annemarie Huber – Hotz an der 175. Gesellschaftsversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft vom 8. Juni 2006

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Adelheid Page-Schwerzmann, eine starke Frau
Wir sind heute sozusagen zu Gast bei einer ausgesprochen starken Frau, die vor gut 100 Jahren wie wir Mitglied der Gemeinnützigen Gesellschaft war. Eigentlich müsste ich sagen, sie hat sich mit einer starken Geste zum Mitglied der Gemeinnützigen Gesellschaft gemacht, und sie ist es auch, die mich zum Titel meiner Ansprache inspiriert hat. Da drängt es sich geradezu auf, dass ich Ihnen diese starke Frau zuerst einmal vorstelle:

Adelheid Page-Schwerzmann, der wir dieses Haus verdanken, war Tochter einer Familie, die in Zug ein Glashandelsgeschäft betrieb. Sie erwies sich schon bald als ein Mensch, der sich sein Leben nicht einfach von den sozialen Gewohnheiten und Erwartungen der Umgebung sanft aufzwingen liess, sondern als eine junge Frau, die den Mut hatte, zu ihren eigenen Bedürfnissen zu stehen und gegen den Strom zu schwimmen.

Der allgemeine Kontext hätte von ihr vielleicht eine Karriere als Näherin, Hutmacherin oder vielleicht auch als Glashändlerin erwartet und ihr bei ihrer Intelligenz sicher auch eine gewinnbringende Ehe zugetraut.

Sie aber war hungrig auf fremde Sprachen, auf Philosophie, Literatur und Kunst. Sie überliess das Glasgeschäft den Schwestern und besuchte die höhere Töchterschule in Vevey.

Auch in der Wahl ihres Mannes war sie alles andere als alltäglich. George Page, der noch mit seinem Vater Wald im Gebiet der Indianer in Nordamerika gerodet und einen Landwirtschaftsbetrieb aufgebaut hatte, war auf Anraten seines Bruders, der amerikanischer Konsul in Zürich war, in die Schweiz gekommen.“Baue hier eine Kondensmilchfabrik, wie es sie jetzt in Amerika gibt, und du bist ein gemachter Mann“, sagte ihm dieser. Damals gab es ja noch keine Kühlschränke, und die Kondensierung war eine sehr effiziente Konservierungsmethode.

George Page war ein Zupacker, wie er im Buche steht, ein Unternehmer durch und durch, gesellschaftlich gesehen ein prächtiger Rohdiamant.

Der Direktor einer eben erst in den Anfängen steckenden Fabrik hätte keine bessere Frau heiraten können. Die beiden verstanden sich in jeder Hinsicht. Sie hatte nicht nur eine ausgesprochen hohe soziale Intelligenz, sondern war auch die denkbar beste Mitdenkerin ihres Mannes. Sie konnte geschäftsstrategisch denken, hatte ein sehr sicheres Urteil und war entscheidungsfreudig.


Generalin in Haus- und Weltwirtschaft
Was als „Milchsüdi“ begann, entwickelte sich dank den beiden in kürzester Zeit zu einem Weltkonzern „Anglo - Swiss and Co.“, und die junge Familie errichtete schon bald einen prächtigen Bau im Stil der Neurenaissance, den Adelheid mit ihrer grossen Kraft und ihrem klaren Gestaltungswillen bis ins letzte Detail formte und optimal auf die Erfordernisse eines Grosskonzerns ausrichtete. Sie war die einzige Frau, die Zutritt zur Chefetage hatte, wo der Verwaltungsrat tagte. Sie hatte grossen Einfluss auf die Geschäftsentscheidungen und sie hatte die Fähigkeit, alles so zu organisieren, dass die gesamte Infrastruktur wie von selbst optimal zu jeder Zeit zur Verfügung stand. Kein Wunder, dass diese Frau in einer männerdominierten Umgebung nicht um Gleichstellung kämpfte, sondern sie mit ihrer unglaublichen Tüchtigkeit einfach lebte. So wurde sie auch, ohne es zu beabsichtigen, zu einer Pionierin der sprachlichen Gleichbehandlung von Frau und Mann, für die sich die Bundeskanzlei seit Jahren erfolgreich einsetzt. Die Zuger und Chamer nannten George Page nämlich General, sie aber nannten sie die Generalin.
Das Geschäft florierte, warf Dividenden zwischen 20 und 30 Prozent ab, die Pages wurden schwerreich. Ausser ihnen fuhr in der Schweiz nur noch die Gotthardpost mit einem Sechsspänner durchs Land.

Adelheid war sich stets bewusst, dass dem Reichtum nicht nur kluge strategische Entscheidungen zugrunde lagen, sondern dass er auch dem Einsatz der Beschäftigten zu verdanken war. Sie behandelte das Personal deshalb immer fair, und die Leute blieben ihr treu. Sie sorgte für einen Kranken- und Unfallfonds, der ohne Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auskam, diese wurden im Haus verköstigt und wohnten in fabrikeigenen Wohnungen, Bäder wurden für sie erstellt, und Cham erhielt ein Wasserleitungsnetz, Trottoirs und Gasbeleuchtung. Man sprach nur noch von Milchopolis.

Adelheid Page war im Kleinen wie im Grossen immer darauf aus, Neues in Angriff zu nehmen, aus dem Gewohnten herauszutreten und Grenzen zu überschreiten.


Entdeckungsfreude und Gestaltungskraft
Wie die Anglo - Swiss rasch zum Weltkonzern wurde, so rasch wurde Adelheid zur Weltbürgerin. 1890 zog sie mit ihrer Familie nach New York, um ihrem Sohn die beste Schulbildung anbieten zu können. Sie selbst nahm Unterricht bei einem der damals berühmtesten Maler Amerikas, bei William Meritt Chase. Später, als es um das Architekturstudium ihres Sohnes ging, war für sie Paris die beste Adresse. Sie richtete eine hochkomfortable Wohnung mit Atelier ein und nahm wiederum bei der besten Adresse Malunterricht, bei keinem Geringeren nämlich als bei Edgar Degas. Und sie erreichte ein durchaus beachtliches Niveau.

Adelheid Page war immer vorne mit dabei und hatte die Fähigkeit, bei allem, was sie tat, vollkommen präsent zu sein. Was immer ihr unter die Hände kam, sie gestaltete es nach ihren Vorstellungen, und sie richtete nicht mit dem Kaffeelöffel an.

Nach dem Tod ihres Mannes betreibt sie in weiser Voraussicht eine Fusion mit Nestlé, denn sie sieht einerseits die Konkurrenzsituation der beiden Firmen, anderseits die grossen Synergiepotentiale und die zu gewinnende Marktmacht. Sie mag wohl auch erkannt haben, dass die Leitung eines Konzerns für ihren Sohn nicht unbedingt die besten Entfaltungsmöglichkeiten bot. Die Fusion gelang, und die Dividenden wurden „nur“ gerade mal verdoppelt.

Schon lange wollte Adelheid Page das Schloss St. Andreas in Cham erwerben. Das erwies sich allerdings als einigermassen uneinnehmbar. Doch Adelheid wäre nicht Adelheid gewesen, wenn sie vor irgendwelchen Hindernissen einfach kapituliert hätte. Mit Landkäufen rund um die Schlossanlage schuf sie eine gute Ausgangslage, und schliesslich erwarb sie das Schloss allen Widerständen zum Trotz zu einem Preis, den man nur als Liebhaberpreis bezeichnen kann. Unter ihrer Hand entstieg das Schloss wie ein Phoenix der Asche. Nur das Beste war gut genug. Sie brachte die ganze Anlage auf den technisch neusten Stand. Sie liess die Räume nach unterschiedlichen Baustilen gestalten, es wurden nur erlesene Materialien verwendet, und unter dem wachsamen Auge der Generalin hatten die Handwerker in jeder Hinsicht Top-Arbeit zu leisten.

Sie wohnte jedoch nur kurz im Schloss. Schon bald überliess sie es ihrem Sohn und dessen Frau. Sie selbst zog in ein Haus, das zur Schlossanlage gehörte.


Gewinnen durch Geben
Eine Blinddarmentzündung, die Adelheid Page nahe an den Tod brachte, gab ihrem Leben eine Wende. Damals, um die Wende zum 20. Jahrhundert, grassierte in der Schweiz die Lungentuberkulose. Durch die ärmlichen und ungesunden Wohnverhältnisse grosser Teile der Bevölkerung gefördert, wurde sie rasch zur Volkskrankheit Nummer 1.

Als Adelheid Page sich unter den Schmerzen ihrer Blinddarmentzündung windet, schreibt sie, bevor sie sich ins Spital bringen lässt, noch rasch ihr Testament und verfügt, dass eine grosse Summe aus ihrem Vermögen für den Bau eines Sanatoriums für Tuberkulosekranke verwendet werden soll. Noch im Spitalbett beginnt sie dieses Sanatorium zu planen. Das war im Juli 1909. Im Herbst erwirbt sie, die nie etwas anbrennen lässt, bereits das nötige Terrain in Unterägeri. Sie verschlingt Fachliteratur, trifft sich mit Spezialärzten zu eingehenden Gesprächen, besucht viele Sanatorien und lässt schliesslich ihr ganzes so erworbenes Wissen samt ihrem Kunstverstand und ihrem Sinn für Funktionalität in den Bau einfliessen. Der wird schon im Frühjahr 1910 in Angriff genommen, und sage und schreibe im Mai 1912 übergibt Adelheid Page der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Zug das betriebsfertige Sanatorium. Dieses genügt höchsten medizinischen Anforderungen, ist sehr funktional und heimelig zugleich.

Heute fürchten sich Gemeinwesen nicht selten vor grossen Geschenken dieser Art, weil sie mit dem Bau immer auch hohe Betriebskosten „geschenkt“ bekommen. Auch hier hat Adelheid Page weitergedacht, denn sie stattete das Sanatorium mit einem jährlichen Betriebskostenbeitrag aus. Nicht genug damit, sie achtete auch darauf, dass die Kranken eine Ausbildung erhielten, die sie auch gleich finanzierte. Die Ausbildung sollte ihnen die Langeweile vertreiben, ihnen Dynamik vermitteln und ihnen die Grundlage für einen Erwerb schaffen. Adelheid Page wusste, in welchem Masse Armut für die Tuberkulose verantwortlich war und dass die Tuberkulose in einem Teufelskreis wiederum die Armut vergrösserte.

Damals war die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Zug eine reine Männergesellschaft. Adelheid Page kaufte sich kurzerhand mit einer respektablen Summe ein. Geld war für Männer ja schon immer ein durchaus valables Argument.


Mütterliche Fürsorge
Die Wohltätigkeit von Adelheid Page war nicht nur geprägt von immer wieder beeindruckenden Klarsicht und Tüchtigkeit, sondern auch von grosser Mütterlichkeit. So schrieb ein Zeitgenosse: „Es war der Geist menschenfreundlicher mütterlicher Fürsorge, der sich in der ganzen Einrichtung kundtat.“

Adelheid Page’s Mütterlichkeit zeigte sich auch bei ihrem Einsatz für die Erweiterung des Sanatoriums durch ein Kindererholungsheim, das sie liebevoll gestaltete und schliesslich der Gemeinnützigen Gesellschaft schenkte.

Mütterliche Fürsorge bewies Adelheid Page aber auch gegenüber Malerinnen und Schriftstellerinnen. Ihnen liess sie ein auf dem Schlossgrundstück stehendes altes Schwesternhaus zu einem Atelier umbauen, wo sie frei arbeiten konnten. Den Schriftstellerinnen war sie eine anregende, wohlwollend kritische und sehr sachverständige Gesprächspartnerin. Sie sorgte auch gleich für Lesepublikum, indem sie in Cham eine Bücherstube einrichtete und sie mit Büchern aus eigenen Beständen füllte.

Mütterlich war sie auch in der Grosszügigkeit ihres Gebens. Kleinlichkeit war nicht ihre Sache. Das zeigte sich vor allem dann, als in einer Baisse der Geldstrom aus Dividenden der Nestlé gänzlich versiegte. Sie trug das mit stoischer Ruhe und vor allem liess sie sich dadurch in ihrer Wohltätigkeit nicht bremsen, sondern meinte nur, man werde sie wohl einmal unter Vormundschaft stellen.

Adelheid Page verstand und handhabte ihre Wohltätigkeit ganz unpathetisch als Erfüllung meiner Pflicht gegen die Mitmenschen. Auch darin blieb sie sich, selbst als Gebrechen ihren Radius erheblich einschränkten, bis zu ihrem Tod am 15. September 1925 treu.


Frauliche Stärke hat 1000 Gesichter
Frauliche Stärke hat 1000 Gesichter. Bei Adelheid Page ermöglichte die Verbindung von persönlicher Begabung, unermüdlichem Fleiss und aussergewöhnlich glücklichen Umständen eine Karriere von fast märchenhafter Entrücktheit. Sie als Vorbild zu empfehlen, könnte gerade deswegen fast entmutigend sein.

Stärke ist indes nicht nur möglich, wenn der Wille durch glückliche Umstände immer wieder beflügelt wird. Sie ist überall zu jeder Zeit und unter widrigsten Umständen möglich, sie kann sich durch Wohltätigkeit im wirtschaftlichen Sinne wie auch als tröstende, wohltuende und befreiende Kraft im geistig seelischen Sinne entfalten.

Ich denke da z.B. an Rose Ausländer. Sie ist in Czernowitz geboren und war dort, als der Naziterror die Stadt überflutete. Sie lebte im Ghetto und jahrelang in Kellern, immer in grösster Not und Todesangst. Von den 60 000 Juden, die damals in Czernowitz waren, überlebten nur 5000.

Von Rose Ausländer möchte ich Ihnen gerne das folgende Gedicht vorlesen:

Aus dem Himmel
eine Erde machen,
aus der Erde
einen Himmel

Wo jeder aus seiner Leuchtkraft
einen Stern ziehen kann

Dieses Gedicht stammt von einer Frau, die nach Jahren der Todesangst unter der Last erdrückender Traumatisierungen leiden musste. Mich beeindruckt tief, dass sie aus solcher Not heraus dieses Gedicht wie eine Gegenwelt schaffen konnte. Sie, die in die Abgründe des Menschseins geschaut hat, drückt im Gedicht mit einfachen Worten Vertrauen in den Menschen aus und hält dem sprachlosen Entsetzen des Terrors ein strahlendes Dennoch entgegen. Rose Ausländer hatte nicht wie Adelheid Page die Möglichkeit, den leiblichen Hunger und Durst anderer zu stillen oder Sanatorien zu bauen, aber sie hat auf der Grundlage ihrer eigenen Zerbrechlichkeit Tausenden von Menschen Atem und Lebenszuversicht geschenkt.

Oder ich denke an Yvonne Ryakiye und Léonie Barakomeza, zwei Frauen aus Burundi, nominiert für das Projekt 1000 Frauen für den Frieden. Es sind zwei Nachbarinnen, die eine Hutu, die andere Tutsi. Als zwischen diesen beiden Stämmen in den 90er Jahren grauenvolle Fehden ausbrachen, versteckte Yvonne Ryakiye unter Todesgefahr flüchtende Tutsi. Die Massaker führten schliesslich dazu, dass der Fluss, der zwischen den Gehöften der beiden Nachbarinnen durchfliesst, zur Todesgrenze wurde.

Dieser zerstörerischen Sinnlosigkeit und diesem dumpfen Tabu setzten die beiden Frauen ihren Willen zum Leben entgegen: „Wir müssen wieder lernen, friedlich miteinander zu leben“, sagten sie, „weil wir nicht unsere Männer und unsere Kinder verlieren wollen.“ Sie hielten sich nicht an das Verbot und überschritten den Fluss, um sich zu begegnen und Gedanken auszutauschen. Andere Frauen folgten ihrem Beispiel, und mit der Zeit waren sogar die Männer erleichtert und froh, dass trotz allem ein friedliches Miteinander möglich war. Schliesslich gründeten die beiden Frauen die Friedensorganisation We want peace .

Heute keimt auf dem Schutt des Krieges neues Leben. Hutu und Tutsi bestellen gemeinsam Felder, helfen sich gegenseitig beim Aufbau ihrer Häuser und leisten gemeinsam Flüchtlingshilfe. Zwei mittellose Nachbarinnen haben dem Hass ihre starke, nicht erschütterbare Mütterlichkeit entgegengesetzt und so der Hoffnung eine Chance gegeben.

Dieses Jahr ist Hilde Domin gestorben, eine Frau, die ihrer Stärke in wunderbaren Gedichten Ausdruck gegeben hat. Zu Beginn ihres Gedichtbands Nur eine Rose als Stütze schrieb sie:

Ich setzte den Fuss in die Luft,
und sie trug.

Zwischen diesen beiden Zeilen liegt eine Pause, in der der Atem stockt, ein Moment, in dem es um Sein oder Nichtsein, um die ganze Existenz geht. Mut zum Schritt ins Offene, in die Unberechenbarkeit, haben vielleicht Frauen eher als Männer. Hilde Domin musste diesen Schritt in ihrem Leben mehrfach wagen, und sie ist dadurch eine starke Frau geworden. Ihr politisches Credo ist in seiner Schlichtheit und seiner Wärme zutiefst fraulich:

„Ich glaube“, schreibt sie, „dass wir nicht nur die Erinnerung an das Erlittene weitergeben, sondern auch die Erinnerung an die empfangene Hilfe. Und dass wir die jungen Menschen dazu ermutigen, nie wegzusehen, sondern immer hinzusehen, wenn Unrecht geschieht, und die Welt zum Menschlichen hin zu verändern: Nicht durch Ideologien, sondern indem der einzelne, wo Hilfe nötig ist, das Schicksal eines einzelnen zum Besseren wendet.“

Diese Stärke, meine Damen und Herren, ist allen möglich, auch den so genannt Schwachen.


Liebende Mütter, liebende Väter
Ich habe meiner Ansprache den Titel „Von starken Frauen und liebenden Müttern“ gegeben. „Liebende Mütter“ - wenn von staatlicher Seite dieses Wort fällt, so sehen wir gleich Graphiken zur demographischen Entwicklung unseres Landes vor uns. Daraus leuchten uns die Tatsachen ungeschminkt entgegen: Wir haben zuwenig Kinder und damit haben wir ein grosses Problem für die Zukunft unserer Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund kann man meinen Titel durchaus verstehen als „wir brauchen mehr liebende Mütter“ und das wiederum könnte leicht völlig missverstanden werden. Etwa so: Frauen, ihr seht, was es geschlagen hat. Zeigt Verantwortung für unseren Staat, setzt euch ein für eine gesunde Entwicklung unserer Gesellschaft, seid ganz Frau, habt den Mut zu mehr Kindern, wir brauchen euch und euren wunderbaren Einsatz.

So meine ich das nun aber nicht. Nein, wir können es uns nicht länger erlauben, die Frage der Kinder zum alleinigen Problem der Frauen zu machen und uns darauf zu beschränken, die Mütter und ihren Aufopferungswillen in den schönsten Tönen zu besingen.
Dass wir zuwenig Kinder haben, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, zu dessen Lösung alle beitragen müssen:

Der Staat muss Rahmenbedingungen schaffen, die es einer Familie mit mehreren Kindern ermöglicht, wirklich eine Familie zu sein, statt sich ständig mit den Problemen fehlender Kinderkrippen, fehlender Blockzeiten an den Schulen und dem Mangel an Tagesschulen herumschlagen zu müssen. Wir können von Eltern nicht mehr Kinder verlangen, wenn wir ihnen zumuten, dass ständiger Termindruck und die Stoppuhr das Familienleben prägen, weil die Kinder zu den unterschiedlichsten Plätzen und zu den unterschiedlichsten Zeiten gebracht oder von dort geholt werden müssen und die Wege zu lang sind.

Daneben sind die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber aufgerufen, alles vorzukehren, damit Mann und Frau die gleichen Chancen der Kinderbetreuung und der Familienarbeit haben. Ich sage bewusst „Chancen“, denn es ist klar, dass Kinderbetreuung und Familienarbeit auch für Männer eine grosse Bereicherung, Kompetenzerweiterung und Steigerung der Flexibilität darstellen. Sie bringen nach meiner festen Überzeugung mehr als manches noch so teure Seminar über Gruppendynamik oder Teamführung.

Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis gilt es umzusetzen: Väter und Mütter, die Familienarbeit leisten, sollten nicht benachteiligt werden. Vielmehr sollte ihnen diese Zeit wie Weiterbildung angerechnet werden. Denn Familienarbeit ist Weiterbildung.

Wir brauchen liebende Mütter heisst also auch: Wir brauchen Männer, die liebende Väter sind und die ihre Frau mit Wohlwollen und durch Taten in ihrer gesamten Entfaltung unterstützen. Natürlich gilt das auch im umgekehrten Sinne.

In eine ihrer jüngsten Interviews sagt Alice Schwarzer: „Wenn man sich die Lebensläufe von Frauen anschaut, die mehr gewagt haben als andere, dann stand dahinter fast immer ein ermutigender Mann“.

Staat und Gesellschaft, wir alle müssen alles daran setzen, dass die Familie in der Atemlosigkeit unserer Profit- und Spassgesellschaft wieder wirklich Familie sein kann, der Ort, an dem in einer Zeit grosser gesellschaftlicher Desolidarisierung Geborgenheit, Solidarität und Liebe die Grundlage bilden, auf der junge Menschen Lebenszuversicht und Festigkeit gewinnen können.


Freiwilligenarbeit
Adelheid Page hat den grössten Teil ihrer Freizeit in Sozialzeit, wie man heute sagt, umgewandelt. Sie war zu ihrer Zeit nicht nur eine grosse Mäzenin, sondern eine eigentliche Benevol-Institution, die ihre Zeit und ihre Kraft der Allgemeinheit zur Verfügung stellte. Damit liefert sie das Stichwort für ein gesellschaftliches Problem, das auch die Gemeinnützige Gesellschaft beschäftigt.

In Artikel 6 unserer Verfassung, der mit „Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung“ überschrieben ist, steht: „Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.“

Damit dieser Artikel die gesellschaftsbildende Kraft entfalten kann, die wir von ihm erwarten, sind wir aufgerufen, die Bedürfnisse unserer sich ständig wandelnden Gesellschaft immer wieder neu zu analysieren. Auch müssen wir unsere Fähigkeit zur Lösung gesellschaftlicher Fragen auf der Grundlage einer differenzierten Auswertung unserer bisherigen Erfahrungen ständig weiterentwickeln. Ich beglückwünsche deshalb die Gemeinnützige Gesellschaft zu ihrem grossen Geschichtsprojekt, das sie im Hinblick auf ihr 200-Jahr-Jubiläum in Angriff genommen hat. Ich verspreche mir von diesem Werk nicht nur einen Überblick und einen vertieften Einblick in die Geschichte, sondern auch eine solide und inspirierende Grundlage zu einer nationalen Diskussion über die Metamorphosen der Gesellschaft sowie Ansätze zur Lösung der Probleme, in denen wir bereits stecken oder die auf uns zukommen.

Angesichts der demographischen Entwicklung und unserer Lebenserwartung müssen wir über die Frage nachdenken, wie unsere Lebenszeit neu strukturiert werden kann, um bezahlte und unbezahlte Arbeit gerechter zu verteilen. Wo, wie und in welchem Ausmass braucht es freiwillige Arbeit? Wo ziehen wir die Grenzen, damit Freiwilligenarbeit nicht Erwerbstätige von ihren Arbeitsplätzen verdrängt? Es mag ja nachvollziehbar sein, dass private und öffentliche Institutionen angesichts des enormen Spardrucks, dem sie ausgesetzt sind, leicht in Versuchung geraten, Freiwilligenarbeit systematisch zur Kostenminimierung zu nutzen und Erwerbstätige in die Arbeitslosigkeit wegzusparen. Das wäre aber über kurz oder lang der Tod des freiwilligen Einsatzes für unsere Gesellschaft.

Gefordert ist vielmehr eine gesellschaftspolitisch klare Grenzziehung und im Einzelfall ein geschultes Auge und fundierte Sachkenntnis, um die Abgrenzung beurteilen und wo nötig korrigierend eingreifen zu können. Ein weiteres, äusserst hilfreiches Instrument ist in diesem Zusammenhang der so genannte Sozialzeitausweis. Er dokumentiert die Kompetenzen und den Einsatz der Personen, die Freiwilligenarbeit leisten, er weist aus, dass Freiwilligenarbeit gesellschaftlich notwendig und hochgeschätzt ist, und er macht die Freiwilligen zu Partnerinnen und Partnern sowohl der Vermittlungsstellen wie auch der Institutionen, die Freiwillige beschäftigen.

Noch ein Weiteres: Von den in der Freiwilligenarbeit tätigen Personen sind 30 Prozent Männer und 70 Prozent Frauen. Ich meine, die Diskussion über eine gesellschaftlich gerechte Verteilung von Freiwilligenarbeit und Erwerbsarbeit muss auch zwischen den Geschlechtern geführt werden. Es scheint, dass der Entscheid zur Freiwilligenarbeit den Männern vorderhand noch mehr Mut abverlangt als den Frauen. Aber gerade dieser Mut ist notwendig.

Das Wort von Hilde Domin
Ich setzte den Fuss in die Luft,
und sie trug
spricht vom Mut zum existenziellen Wagnis. So weit muss man sich mit der Freiwilligenarbeit nicht einmal vorwagen. Freiwilligenarbeit fordert aber von Männern wie von Frauen den Mut, einen Schritt zu tun.

Schon allein dieser kurze Blick auf die Freiwilligenarbeit zeigt, wie komplex und vielschichtig die gesellschaftliche Neuorientierung rund um die Frage des Umgangs mit der Lebenszeit ist. Er zeigt aber auch, wie richtig die Gemeinnützige Gesellschaft ihre Schwerpunkte setzt, um so für komplexe Probleme differenzierte, weiterführende Antworten zu finden.

Ich beglückwünsche die Gesellschaft und Sie alle hier im Saal zu diesem unschätzbaren Beitrag zum Wohl unserer Gesellschaft. Möge Ihre Tätigkeit dazu beitragen, unserer Gesellschaft nicht nur starke Frauen und starke Männern zu schenken, sondern auch liebende Väter und liebende Müttern.

Das ist es, worauf es ankommt.


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Bundeskanzlei
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