Bundesrätin Doris Leuthard zum Nationalfeiertag in Greifensee (ZH)

Greifensee, 01.08.2007 - Keine Rechte ohne Pflichten keine Freiheiten ohne Verantwortung

Sehr geehrter Herr Gemeindepräsident,
sehr geehrte Vertreter aus Politik und Wirtschaft,
verehrte Bürgerinnen und Bürger von Greifensee,
liebe Gäste aus Nah und Fern.

Als Fürst ist es weit sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden. So - glaubte zumindest Nicolò Machiavelli - sei ein Staat, ein Volk erfolgreich zu führen. Er plädierte für einen starken Herrscher und hatte ein Volk vor Augen, das weder Rechte noch Pflichten braucht, ein Volk, das folgt und gehorcht.

Machiavelli hat eindeutig nicht lange genug gelebt. Hätte er die moderne Eidgenossenschaft gekannt, wäre er zu anderen Erkenntnissen gekommen. Unsere Vorfahren haben Rechte für uns erkämpft und uns gleichzeitig in die Pflicht genommen - gerade weil wir keine Herrscher wollten.

Wir Schweizerinnen und Schweizer brauchen niemanden, der uns züchtigend zur Ordnung mahnt und zum Erfolg führt. Und dort, wo Fürsten - oder andere, wie etwa Ital Reding 1444 hier in Greifensee - grausam wüteten, haben wir sie verjagt, vertrieben und verachtet.

Auch heute brauchen wir keine Führer-Figuren, die Machiavelli predigen; weder in der Politik noch in der Wirtschaft. Wir Eidgenossen sind selber stark - gemeinsam! Omnes pro uno - unus pro omnibus; alle für Einen - Einer für alle: wie es in der Bundeskuppel in Bern geschrieben steht. Und es würde manchem Politiker gut anstehen, mehr zum Wappenkranz empor zu schauen, statt immer nur auf die eigene Karriere und die nächsten Wahlen zu schielen.

Wir sind stark, weil alle Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte in der Schweiz kennen und bemüht sind, ihren Pflichten nachzukommen. In struben wie in guten Zeiten; nach innen und nach aussen.

So haben unsere Vorfahren eine Schweiz geschaffen, an die ich glaube und auf die ich stolz bin. Ein Land, das fähig ist, das Beste zu geben, das Ängste überwindet und solidarisch ist; das seine Wurzeln bewahrt und sich gleichzeitig in die Welt integriert. Ein Land, wo alle Bewohnerinnen und Bewohner in gleicher Würde, mit gleichem Respekt und gleicher Teilnahme am Gemeinwesen mitmachen können. Ein Land, in dem wir in grosser Freiheit leben, lernen und arbeiten können.

Diese Freiheit stützt sich auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, so wie sie von der Verfassung garantiert sind.

Was wäre die Freiheit zu leben, ohne dabei die Würde des Menschen zu achten? Dann hätten wir Probleme mit den Religionen, mit den Minderheiten, mit den Sprachen.

Was wäre die Freiheit zu lernen und zu arbeiten, ohne den Anspruch auf Grundschulunterricht und freie wissenschaftliche Lehre und Forschung? Dann hätten wir Schwierigkeiten, unseren hohen Bildungsstandard, die hervorragende Berufsbildung oder die Spitzenresultate in der Forschung zu halten und weiter auszubauen.

Was wäre die Freiheit den Staat zu gestalten, ohne den Anspruch auf die Bürgerrechte und die Ausübung der politischen Rechte? Dann wären wir ungefähr dort, wo Machiavellis „Fürst" uns haben wollte; ein Volk, das folgt und gehorcht.

Erst die Wahrnehmung all dieser Rechte gibt den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheiten. Es darf aber nicht sein, dass diese Rechte konsumiert werden wie Milch und Honig im Schlaraffenland, wo Genuss als Tugend und Arbeit als Sünde gilt. Es darf auch nicht sein, mit Stimmabstinenz an der Urne zu glänzen und „die-da-oben-in-Bern" einfach machen zu lassen.

Des Bürgers oberste Bürgerpflicht ist es nicht, die Steuern zu entrichten, die Abfallgebühren zu bezahlen oder den Militärdienst zu leisten. Und wer seine Engagement nur aufs Bezahlen reduziert, der kann seine Staatspflichten auch gleich beim Finanzamt an der Kasse abgeben.

Am Anfang steht vielmehr die Pflicht zur Solidarität mit der Gemeinschaft. Wir helfen einander; Gutverdiende und Vermögende zahlen überproportional Steuer. Und auch unsere Altersvorsorge baut auf dieser Solidarität auf. Es ist auch unsere Pflicht, unsere Rechte zu nutzen; kritisch mitzudenken, mitzuentscheiden und mitzuverantworten. Es ist schliesslich die Pflicht und die Verantwortung von uns allen, als „citoyen actif" den Staat wachsam und kritisch gestalten zu können - bei Sachabstimmungen wie bei Wahlen.

Nur wenn wir bereit sind, unsere Pflichten zu tragen, sind wir stark.

Wie stark und zu welchen Leistungen wir fähig sind, habe ich vor drei Wochen erlebt, als ich zusammen mit Schweizer Unternehmern China besuchte. Dort habe ich festgestellt, dass die Pflicht sehr viel gilt. Und aus diesem Pflichtgefühl der Familie, dem Unternehmen und dem Staat heraus konnte China so stark wachsen.

Wir Schweizer sind stark, weil auch wir uns der Gemeinschaft gegenüber verpflichten. Wir sind als Volk und Staat aber so stark geworden, weil wir auch unsere Rechte voll ausschöpfen.

In diesem Geist von Pflichtgefühl und Rechte sind rund 300 Schweizer Firmen aus über 700 Branchen sind in China erfolgreich tätig. Firmen, die nicht nur in Ehrfurcht vor der gelben Gefahr erstarren, sondern die Gelegenheit beim Schopf packen und Arbeitsplätze schaffen; in China und vor allem auch in der Schweiz. Sie sind für mich der Beweis, dass wir als kleines Land zu grossen Leistungen fähig sind. Oder wie es Alexis de Tocqueville in seinem Bericht über die Demokratie in der Schweizer umschrieb: „Auch wenn das Theater klein ist, die Wirkung ist gross."

Wir bewirken als kleiner Staat in dieser Welt etwas, weil wir als Nation für Rechte und Pflichten einstehen; für den Schutz der Menschenrechte und für das Völkerrecht, als Depositärstaat der Genfer Konventionen. Wir bewirken etwas, weil wir uns an Verträge halten. Wir gelten dadurch als Garant für Stabilität und Zuverlässigkeit, wie mir unlängst die vietnamesische Vizepräsidentin versicherte.

Wir Schweizer tun das jedoch nicht, weil wir „pingelige" Paragraphenreiter oder sture Rechthaber sind. Wir tun das, weil wir von dieser Rechtssicherheit auch Nutzen ziehen; als Bürger im eigenen Land und als Staat in der Weltgemeinschaft. Nur in der Kombination von Rechten und Pflichten, von Freiheit und Verantwortung finden wir jene Sicherheit, mit der wir uns weiterentwickeln können - als Staat, als Gesellschaft und als Wirtschaft. Denn der Erfolg ist uns sicher, wenn wir unsere Rechte nutzen und unseren Pflichten nachkommen.

Es ist das Recht der Eltern, ihr Leben zusammen mit ihrer Familie frei zu gestalten. Aber sie haben die Pflicht vorzusorgen, Rückstellungen zu machen, beispielsweise für die Ausbildung ihrer Kinder.

Es ist das Recht jedes Jugendlichen, seinem Traumberuf nachzustreben. Aber es ist seine Pflicht zu lernen, im weiten Berufsspektrum nach Alternativen Ausschau zu halten und sich nicht einfach in das soziale Netz der Gesellschaft fallen zu lassen.

Es ist das Recht des Unternehmers, nach Gewinn zu streben und die Produktivität zu steigern. Aber er hat die Pflicht, sich an staatlichen Vorgaben auszurichten und das Wohl seiner Angestellten im Auge zu behalten.

Es ist das Recht jedes Kantons, seinen Spielraum innerhalb der föderalistischen Freiheiten zu nutzen. Aber er ist verpflichtet, sich an der Verfassung zu orientieren.

Es ist das Recht jedes Politikers, die Gemeinschaft nach seinen Vorstellungen umgestalten zu wollen. Aber es ist seine Pflicht, andere Meinungen zu respektieren, Entscheide von Gremien zu akzeptieren und mitzutragen und den einmal gefällten Volkswillen auch zu vollziehen.

Es ist das Recht jedes Bürgers, seine Freiheiten auszukosten. Aber es ist seine Pflicht, für sein Tun die Verantwortung zu übernehmen.

Wer stur seine eigene Sicht der Schweiz zum allein selig machenden Evangelium hochstilisiert, wer behauptet, sein Weg sei der einzig erfolgreiche, der wiegt sich und seine Mitbürger in falscher Sicherheit. Wer meint, das Volk werde durch fremde Vögte bevormundet und dabei internationale Abmachungen ins Visier nimmt, der untergräbt die hohe Glaubwürdigkeit der Schweiz. Wer solches behauptet, der argumentiert einäugig und entwickelt sich zum Fürsten, der glaubt, gefürchtet zu werden sei besser.

Dass es auch anders geht, das haben die Bürgerinnen und Bürger von Greifensee selber erlebt; vor 220 Jahren mit ihrem Landvogt Salomon Landolt. Er war zwar auch ein Vogt; aber ein eigenwillig-origineller, wenn man Gottfried Keller glauben kann. Er machte seinem Namen alle Ehre und versuchte salomonische Urteile zu fällen. Er hat seine Verantwortung wahrgenommen und das Land nicht ausgenommen. Er wollte für seine Untertanen das Beste; Rechtssicherheit und Wohlstand.

Und so wie Landolt und viele nach ihm den Dienst am Staat verstanden haben, so müssen auch wir heute und morgen die Schweiz verstehen. Sonst trifft zu, was der Basler Philosoph Isaak Iselin schon 1755 erkannte. „Es ist keine Freiheit mehr, so bald man ihrer nicht mehr würdig ist." Würdig sind wir dieser Freiheit, wenn wir nicht nur Rechte fordern, sondern auch Pflichten übernehmen - gerade in einem Wahljahr. Würdig sind wir, wenn nicht jeder eigennützig sagt: Ich will, ich will! Würdig sind wir, wenn alle gemeinnützig sagen: Ich mache mit! Ich engagiere mich! Ich übernehme Verantwortung - als Bürgerinnen und Bürger, als Eltern, als Mitarbeitende oder als Unternehmer und Politiker!

Ich wünsche mir eine zupackende Schweiz, in der viele freiwillig mitmachen; in der sich aber noch mehr Bürger in die Pflicht nehmen lassen. Jeder an seinem Platz und nach seinen Möglichkeiten. So wie sie dies vor über 700 Jahren mit dem Bundesbrief taten.

Heute findet das überall statt, was damals mit dem Bundesbrief verankert und später auf dem Rütli beschworen wurde. Wenn wir unsere Rechten und Pflichten so wie damals wahrnehmen, werden wir die Gegenwart bewältigen und die Zukunft tatkräftig angehen können. Dann gestalten wir eine mutige und initiative Schweiz. Eine Schweiz, die sich auf den Weltmärkten behauptet und auf den Weltbühnen engagiert. Die auf den Traditionen aufbaut und den Herausforderungen aufgeschlossen und kreativ begegnet. Die sozial ist gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern; die hilfsbereit gegenüber den Notleidenden in der Welt handelt.

Eine Schweiz in der es sich leben lässt; in der es allen wohl ist.

Ich danke Ihnen und wünsche allen ein schönes Fest.


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung
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